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Leseproben: Franco Thamér – Mehr als ein Leben

Die etwas anderen Künstlerbiographie
 


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Leseprobe Biographie

Kraftlos ging ich durch die Straßen und Gassen von Wien. Wie so oft hatte ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten, die Prügel, das Nicht-verstanden-Werden, das Ungeliebt-Sein. Selbst meine Höhle, das Eggerloch, konnte mir nach vielen Jahren der stillen Einkehr nichts mehr geben. Jetzt war ich in Wien angekommen, der Stadt der Kunst. Die Nässe hatte meine Malutensilien unbrauchbar gemacht. Meine Aquarelle, die Farben, alles landete in einem Mülleimer in einer Seitengasse. Der Regen hatte mich bereits aufgeweicht. Das typisch schrumpelige Aussehen meiner Finger unterstrich diesen Eindruck. Viel zu lange hatte ich nichts mehr gegessen. Auf der Suche nach einer trockenen Stelle für ein Lager unter leeren Zementsäcken schleppte ich mich weiter durch die Nacht. Plötzlich ein Lichtblick. Ich zögerte für ­einige Sekunden. Mein Gewissen riss mich hin und her. Wie sollte es weitergehen? Der Einstieg in die Wiener Kunstszene zur Absicherung meines Lebenserwerbs ging gründlich schief. Jetzt faszinierte mich ein überraschend aufgetauchter Zufluchtsort: ein offenstehender Wagen. Die Wärme im ­Inneren des Autos konnte ich bereits erahnen, die weich ­gepolsterten Sitze spüren. Dieses Gefühl entfaltete eine ­magisch anziehende Sogwirkung auf mich. Intuitiv warf ­ ich alle Bedenken über Bord. Wie ein Blitz schoss nur ein Gedanke durch meinen Kopf: jetzt in das Auto. Die grelle Neonreklame über dem Eingang zur Bar spiegelte sich auf dem tropfnassen Dach des Luxusschlittens und verwandelte ihn in eine verführerische Schlange. Die offene Fahrertür bot eine einzigartige Gelegenheit.

Um diese Zeit war die Annagasse in Wien fast menschenleer. Und der seit Stunden anhaltende Regen vertrieb auch noch die hartnäckigsten Nachtschwärmer. Schwierig­keiten konnten mir also nur der Portier der Bar und der Fahrer des Wagens bereiten. Letzterer wirkte sehr elegant auf mich. Feingliedrig und von einer schönen Gestalt. Er war auf keinen Fall der Typ für eine nächtliche Rangelei. Ganz im Gegensatz zum kraftstrotzenden Portier. Auch unter seiner Livree konnte er den Rausschmeißer in sich nicht verbergen. Der Regen durchweichte die Schulterstücke und Revers seiner rot-goldenen Uniform. Er wischte sich mit der Rechten über die Haare und versuchte, eine widerspenstige Locke zu bändigen. Der Fahrer hatte vor der Bar nur kurz für eine Auskunft angehalten. Wenn ich wollte, musste ich schnell handeln. Der Zündschlüssel steckte. Auf der betriebswarmen Motorhaube verdampften die nächtlichen Regentropfen.

Am Schlüsselanhänger baumelte ein Glücksbringer. Ein positives Zeichen für mich? Jetzt oder nie? Ich pirschte mich ganz nahe heran wie ein Panther vor dem entscheidenden Sprung. Nur noch wenige Schritte bis zur Wagentür – ich musterte die beiden noch einmal ganz genau. Das zuckende Neonlicht gab den Gesichtern eine unwirkliche bläuliche Farbe. Der Portier nickte und zündete sich eine Zigarette an. Der Regen löschte die kleine Streichholz- flamme, noch bevor die Zigarette Glut fing. Im kurzen Feuerschein sah ich sein grobschlächtiges Gesicht. Der Fahrer zog ein goldenes Feuerzeug aus seiner Blazertasche hervor. Ein Gentleman wie aus dem Bilderbuch. Der Portier beugte sich über die Flamme, die „mein“ Gentleman mit einer Hand gegen den Regen schützte.

Das war meine Chance! Das Jetzt oder Nie stand wirklich im Raum! Ich huschte an ihnen fast lautlos und unsichtbar vorbei zur Fahrertür – gleich einer schwarzen Katze in der sternenlosen Nacht. Ich legte beide Hände aufs Lenkrad, streichelte es einmal zärtlich, wie die weiche Haut meiner Tänzerin, und fasste nur einen Gedanken: DU SCHAFFST ES, SIE KRIEGEN DICH NICHT! Schon ließ ich den Motor wie ein gequältes Tier aufheulen. Dieses Gas­pedal brauchte man nicht zu treten. Es reagierte auf die leichteste Berührung. Hinter mir warf der Portier wütend seine Zigarette in die Pfütze und fluchte. Der Gentleman blickte erschrocken und mit offenem Mund in die Richtung seines Wagens. Dabei bot er eine hilflose Geste. Mit so viel Dreistigkeit hatte er wohl in dieser regnerischen Nacht nicht gerechnet. Ich gab Vollgas. Jetzt bloß weg, bevor die ersten Polizeiwagen auftauchten. An der nächsten Kreuzung bog ich rechts ab, dann links und wieder links. Die Lenkung war so leicht! Kein ­Vergleich zu dem Trecker unseres Nachbarn, mit dem ­ ich schon als Sechsjähriger gefahren war. Ich lachte vor ­Übermut. Schon befand ich mich in einem anderen Wiener Viertel. An der nächsten Ampel zog ich mein klatschnasses T-Shirt aus. Die Autoheizung zauberte in wenigen Sekunden eine wohltuende Wärme. Noch bevor ich die Wiener Außenbezirke erreichte, trockneten meine Haare. Die Benzinuhr zeigte zum Glück einen vollen Tank an.

Mit meinen fünfzehn Jahren fühlte ich mich endlich frei. Ich saß in einem roten Mercedes Benz 220 SE Cabriolet mit viel blank gewienertem Chrom drum herum. In nur knapp zwanzig Sekunden beschleunigte ich von null auf Tempo einhundert. Jetzt surrte der Motor nur noch leise. Zärtlich ließ ich meine Hand über die Polster vom Bei­fahrersitz gleiten. Es fühlte sich so weich an wie Samt. Vielleicht läuft jetzt schon die Fahndung nach dem un­verschämten Autodieb ... bestimmt sogar ..., aber alle Beteiligten hatten keine Chance, mich jetzt noch zu schnappen. Zu groß war mein Freiheitstrieb. Zu unge- brochen mein Lebensmut. In einigen Wiener Stadtteilen kannte ich mich inzwischen so gut aus wie in den Bergen meiner Kärntner Heimat. Denn in der Vergangenheit war ich schon öfter von zu Hause weggelaufen und immer wie­- der auch nach Wien geflüchtet. Schlupflöcher als Versteck vor der Polizei hatte ich genug in meinem Kopf. Aber meine Gefühle drängten mich raus aus Wien. Ich musste hier noch in dieser Nacht weg, so wie ich mein Elternhaus verlassen hatte, um nicht kaputtzugehen. Obwohl ich lange nichts gegessen hatte, spürte ich jetzt keinen Hunger. Mich beherrschte allein das unglaubliche Gefühl, mit diesem Luxusschlitten durch die Straßen zu gleiten.

Bei dem Gedanken, wie ich an die letzte Wurst kam, musste ich lachen. Das sollte es in Zukunft nicht mehr geben. Es war dumm, wegen einer Wurst oder einem Apfel Ärger zu bekommen. Aber als ich vorgestern Mittag mit knurrendem Magen einen Mann in seine Bratwurst beißen sah, da konnte ich nicht mehr widerstehen. Es roch so herrlich nach brutzelndem Fleisch und heißem Fett. Die Wurst war knackig braun und an der Seite etwas aufgeplatzt. Der Verkäufer legte sie im richtigen Moment in eine auf­geschnittene Semmel und träufelte etwas Senf aus seiner ­gelben Plastikflasche auf die dampfende Wurst. Dann reichte er sie einem stämmigen Mann fast ohne Hals. Es schien, als ob sein Kopf direkt an den Schultern eines massigen ­Körpers angewachsen wäre. Im Gegensatz zu mir hatte er Über­gewicht. Vermutlich kippte sein Kreislauf ab und zu um, weil er sich zu unvernünftig ernährte. Er hatte nicht die O-Beine eines Reiters, sondern es sah so aus, als würden die Knochen sich unter der Last seines Körpers biegen. Als er seine Lippen über die Wurst stülpte, sah ich ihn kurzatmig in einem Großraumbüro sitzen, traurig und mit Völle­ge­fühlen. Wahrscheinlich trug er Tabletten gegen Sod­brennen bei sich.

Noch bevor er die Zähne in die Bratwurst grub, ­ griff ich zu. Er war völlig baff. Schon beim Davonlaufen ­verschlang ich gierig die Wurst. Was du runtergeschluckt hast, kann dir keiner mehr abnehmen, dachte ich. Der ­stämmige Mann versuchte erst gar nicht, meine Verfolgung aufzunehmen. Trotzdem rannte ich intuitiv. Er wusste, dass ich viel schneller war. Dabei hätte ein kleiner Sprint durch die Wiener Innenstadt seinem Körper bestimmt gutgetan. Stattdessen kaufte er sich einfach eine neue Bratwurst. Diese verspeiste er dann seelenruhig auf dem Rückweg zu seinem Großraumbüro. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Ich fürchtete ihn nicht. Er tat mir auch ein wenig leid. Für einen kurzen Moment erwog ich, ihm die zweite Bratwurst auch noch zu nehmen. Aber in seiner kurzen Mittags- pause hätte er sich wahrscheinlich keine dritte Bratwurst besorgen können.

Ein unglaublich schönes Mädchen mit dem Gang einer indischen Tempeltänzerin lenkte mich ab. Ich wischte mir mit der Zunge die letzten Senfreste von der Oberlippe. Das verstand sie wohl falsch, denn jetzt warf sie mir einen aufmunternden Blick zu und zwinkerte mit den Augen. Keine Frage, ich war ihr Typ. Sie mochte meine langen blauschwarzen Haare mindestens genauso gerne wie ich ihr Gesicht. Aber von der gegenüberliegenden Seite winkte ein Junge in Jeans und ließ stolz den Motor seines Mopeds aufheulen. Immer noch mir zugewandt zuckte sie ein wenig bedauernd mit den Schultern. Dann ging sie zu ihm rüber. Noch hoffte ich, es könne ihr Bruder sein. Doch sie küsste ihn und die beiden rauschten davon. Schade Mädchen, dachte ich, dass du mich jetzt nicht sehen kannst – in diesem Traumschlitten.

Trotz des Regens drehte ich die Scheibe herunter und genoss die frische Luft. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn jetzt die Sonne endlich durchbräche. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit das Cabrio mit offenem Verdeck zu fahren und meine langen Haare im Fahrtwind flattern zu lassen. Mehr zufällig blickte ich auch auf die Tachonadel. Ich fuhr über hundert Stundenkilometer. Wien lag schon längst hinter mir – und vor mir ein neues Leben.

 

 

 

 

 

Leseprobe Interview
 

Oft haben Sie mit Ihrer Persönlichkeit polarisiert. In einem Fall ging es wohl um Leben und Tod. Zu Beginn der neunziger Jahre machte Sie ein Rechtsanwalt zu seiner Zielscheibe. Wie kam es dazu? Ja. Das war eine sehr harte Zeit. Ohne jede Vorahnung oder Vorwarnung betrat ich mein Institut an einem ganz gewöhnlichen Tag. Gut gelaunt von einer Ausstellung zurückge­kommen, hörte ich routiniert den Anrufbeantworter ab. Ich wunderte mich noch über die große Anzahl eingegangener Telefonate, dachte mir aber nichts Ungewöhnliches dabei. Nach zahlreichen Nachrichten spielte das Band eine mir nicht bekannte Melodie. Dazu sprach eine männliche Stimme: „Du bist tot!“ Hier nahm der Irrsinn seinen Anfang, denn derselbe Anruf wiederholte sich unzählige Male auf dieser Aufzeichnung und an den folgenden Tagen, ja Wochen später.

Was war Ihr erster Gedanke? Ich musste sofort an meine Tochter denken, die bei mir lebte. Wie konnte ich sicherstellen, dass ihr nichts passieren würde? Dafür musste ich unbedingt die Identität dieses ­anonymen Anrufers herausfinden.

Haben Sie die Polizei eingeschaltet? Ja, aber nicht sofort nach Erhalt dieser Drohung. Für mich war es erst einmal ein Unbekannter auf meinem Anrufbeantworter. Heute gibt es mit der Digitalisierung ganz andere Möglichkeiten zur unmittelbaren Enttarnung. Was hätte ich der Polizei denn damals sagen sollen? Ein mir völlig Un­bekannter spricht auf den Anrufbeantworter „Du bist tot!“?

Wie ging es weiter? Eines Tages klingelte das Telefon im Institut zur Mittagszeit. Ganz gegen meine Gewohnheit nahm ich statt einer meiner Sekretärinnen den Hörer ab. Normalerweise schaltete sich in dieser Zeit der Anrufbeantworter ein. Jetzt stellte sich mir ein Herr mit folgendem Wortlaut vor: Rechtsanwalt W. B., er müsse mich dringend, am besten noch heute, persönlich sprechen. Er hätte große Probleme. An seiner Stimme er­kannte ich sofort den Unbekannten, der mich am Telefon ­bedroht hatte. Für mich war plötzlich klar, dass ich in dem Moment mit diesem verwirrten Menschen in Verbindung stehe. Wie üblich war ich ausgebucht. Trotzdem ging ich auf seinen Vorschlag ein und sagte zu, mich mit ihm in seiner Kanzlei zu treffen. Unmittelbar danach erkundigte ich mich bei einer Rechtsanwältin nach diesem Kollegen. Sie besaß ­keinerlei Kenntnis von ihm, bestätigte aber seine von mir notierte Anschrift nach einem Blick in das Anwaltsverzeichnis. Außerdem gab sie mir den dringenden Rat, die Polizei über den Vorfall zu verständigen. Ich folgte Ihrem Rat vorerst nicht. Nach der langen Zeit mit den regelmäßigen Drohungen wollte ich unbedingt sein Motiv erfahren. Zur verabre­deten Zeit stand ich vor seinem Haus. Dort nahm mich ein ­seltsames Gefühl gefangen. Da ich mich immer auf meine Intuition verlassen habe, dachte ich nicht länger nach, sondern kehrte sofort wieder in mein Institut zurück.

Wie unheimlich! Ich meldete mich nach meiner Rückkehr umgehend bei dem ominösen Rechtsanwalt und entschuldigte mich für mein Nichterscheinen. Ich vereinbarte mit ihm wenige Stunden später ein neues Treffen in einem Café. Dann telefonierte ich mit der Polizei und spielte die Aufzeichnung mit der Drohung ab. Sie gaben mir den Rat, diesen Herrn im Café zu treffen, und versprachen, Polizisten in Zivil hinzuschicken. Auch sollte ich unbedingt einen Zeugen mitbringen. Damals begleitete mich meine Sekretärin. Tauchte er wie verabredet auf? Ja, er betrat das Café zur vereinbarten Zeit. Dabei fielen mir aber sofort seine seltsam steifen Bewegungen auf. Im Café setzte er sich mir gegenüber. Die Polizisten in Zivil trafen mit etwas Verspätung ein und bestellten ein paar Tische ­weiter eine Kleinigkeit zu essen. Ein sicheres Gefühl be­kamen weder meine Sekretärin noch ich durch ihre An­wesenheit. Aber das war in diesem Augenblick der ersten Gegenüberstellung nicht so wichtig. Ich wollte jetzt endlich seine Beweggründe erfahren. Meine Sekretärin hatte ich ­ ganz bewusst links von mir und ebenso wie mich mit dem ­Rücken zur Wand platziert. In dieser Ausrichtung konnte ich im Notfall den Tisch hochreißen.

Wie hat sich das Gespräch entwickelt? Ich stellte ihm gleich zu Beginn die Frage nach seinen Be­weggründen. Er gestand mir, dass er unter dem Einfluss einer Stimme lebe, die ihm immer wieder einflüstere: „Alles, was Du liebst, musst Du töten!“ Er kenne mich von den ­Plakaten und verehre mich. Und aus diesem Grund müsse er mich töten. Dabei erkannte ich plötzlich unter seinem Sakko den Grund für seine steifen Bewegungen. An seiner linken Seite sowie am Rücken steckten ein Dolch und ein Säbel. Mir war sofort klar, dass dieser Mensch schwer krank war und die Lage für uns sehr bedrohlich werden könnte. In dieser äußerst schwierigen Situation schaffte ich es nach ­einigen Anläufen, ihn davon zu überzeugen, sich zur Behandlung in das Bezirkskrankenhaus nach Kaufbeuren zu begeben. Wortwörtlich befahl ich ihm: „Stehen Sie jetzt auf, gehen Sie zur Tür und fahren Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Klinik nach Kaufbeuren!“ Er gehorchte zunächst. Doch als er dann an unserem Tisch vorbei in Richtung Ausgang lief, verabschiedete ihn unglücklicherweise meine Sekretärin. Dadurch aus seinem Vorhaben gerissen, begannen seine Augen zu funkeln und er griff mit seiner rechten Hand unter das Sakko. In diesem kritischen Moment behielt ich die Nerven und der Anwalt setzte sich wieder. Ich zwang ihn wiederholt durch eine bestimmende Tonlage in meiner Stimme und mit wirkungsvollen Worten, sich in ­Behandlung zu begeben. Im zweiten Anlauf verließ er das Café. Die beiden Polizisten nahmen seine Verfolgung auf und berichteten mir später, dass er tatsächlich in der be­sagten Klinik in Kaufbeuren angekommen war.

Spannend wie ein Psychokrimi! Noch am gleichen Tag erkundigte ich mich in der Klinik bei der zuständigen Ärztin nach seinem Befinden und der wei­teren Behandlung. Seine Drohungen bereiteten mir immer noch großes Kopfzerbrechen. Diese meinte aber nur kurz ­angebunden, ich sei selber schuld an dem Vorfall. Hätte ich ganz Augsburg nicht mit Plakaten von mir zugepflastert, wäre die bedrohliche Situation erst gar nicht entstanden. #Völlig perplex erkundigte ich mich über seine geplante Aufenthaltsdauer in der Klinik. Dazu entgegnete sie kurz und bündig, wer aus eigenem Antrieb komme, könne auch selbst über den Zeitpunkt seiner Entlassung bestimmen.

Unfassbar diese Haltung. Ein offensichtlich Geisteskranker wird auf freien Fuß gestellt. Er hätte wieder bei Ihnen vor der Türe stehen können. Wie sind Sie mit dieser lebensbedroh­lichen Situation umgegangen? Immer diesen kranken Menschen im Hinterkopf konnte ich mich nur noch schwer konzentrieren. Eines Abends verließ ich als Letzter das Institut kurz nach neunzehn Uhr. Plötzlich hörte ich den Aufzug nach oben fahren. Da niemand mehr im Haus war, ging ich nicht wie gewohnt die Treppen hinunter, sondern wartete, ob der Aufzug in meiner Etage stoppte. Tatsächlich, er stoppte und ich erwartete insgeheim den besagten Rechtsanwalt W. B. mit seinen skurrilen Waffen. Die Aufzugtür öffnete sich – und es erschien meine Tochter. Meine Nerven lagen inzwischen blank. Nicht auszudenken, wenn ich ihr aus der Verwechslung heraus etwas angetan hätte. Mir war längst klar, dass sich etwas ändern musste.

Was haben Sie unternommen? Ich suchte den Kontakt zu der Freundin von Rechtsanwalt W. B. Sie hieß Susanne und arbeitete als Lehrerin. Mit ihrer Hilfe wollte ich über all seine weiteren Schritte informiert sein. Wir haben uns mehrfach getroffen. Beim ersten Mal klang ihre Aussage wie ein Geständnis. Unvergesslich ihre Worte, sie sei richtig neidisch auf mich. Mich liebe er und deshalb wolle er mich umbringen. Sie liebe er nicht und ­ – deshalb wolle er sie auch nicht töten! Ich weiß nicht mehr, was mich damals mehr schockiert hat, ihre nüchterne Aussage oder die Tatsache, dass solch eine Person als Lehrerin mit Kindern arbeitete.

Das klingt alles unfassbar! Bitte, wie ging es weiter … Sie berichtete mir, dass die Wände seiner Kanzlei mit Säbeln geschmückt und mit meinen Plakaten zugepflastert seien und so weiter. Ich war fassungslos. Eines Tages lud Sie mich ein, mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Den ­Termin nahm ich pünktlich wahr und stand wie vereinbart vor der Tür der Kanzlei. Sie erwartete mich winkend am ­Eingang. In dem Moment, als ich auf sie zuging, schossen mir die Worte der Ärztin durch den Kopf. Wer freiwillig in die Klinik komme, könne selbst bestimmen, wann er gehe. Deshalb änderte ich meine Meinung und informierte die Freundin, dass ich heute nicht eintreten werde. Auf meinem Rückzug bemerkte ich aus den Augenwinkeln heraus ein leichtes Bewegen des Vorhangs am Fenster der Kanzlei. Im Institut angekommen rief ich sofort in der Klinik in Kauf­beuren an und erkundigte mich nach dem Rechtsanwalt. Die Dame am Empfang bestätigte meine Vorahnung. Er hatte an diesem Tag Ausgang und wäre wohl zu Hause anzutreffen gewesen. Er war also die Person hinter dem Vorhang!

Da hatten Sie ja die richtige Vorahnung! Natürlich war mir danach klar, dass auch seine Freundin krank war. Nach diesem Vorfall durchsuchte die Polizei die Kanzlei und stellte alle Beweismittel sicher. Ab sofort verbot ihm ein gerichtlicher Beschluss, sich mir zu nähern. Aber konnte ich mich wirklich darauf verlassen, konnte ich mich und meine Tochter sich wirklich sicher fühlen? Wir wussten es nicht so genau …

Sind Sie diesem Wahnsinnigen noch einmal begegnet? Ja, noch ein einziges Mal. Ich betrat wieder nach einer Ausstellung ein Augsburger Lokal und sah ihn dort an der Theke. Er blickte nur kurz in meine Richtung, erkannte mich aber nicht mehr. Mit seinem apathischen Blick schaute er durch mich hindurch. Wahrscheinlich war er mit Medikamenten „vollgepumpt“. Beim Verlassen des Lokals tat er mir leid.







Buchbestellung: Franco Thamér – Mehr als ein Leben
 

Eine mitreißend ehrliche Biographie über das filmreife Leben des Malers Franco Thamér. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erscheint die vorab hochgelobte Biographie. Hardcover mit Schutzumschlag • 424 Seiten • ISBN 978-3-00-052454-7
 

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